Lance Man, Abteilungsleiter

Episode Eins: Die Nacht der leckenden Toten (Auszug) 

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(Das Kellergeschoss des Gelee-Royal-Versicherungskonzerns. Im Vordergrund zwei bepackte Schreibtische. Ein Baumarktregal unter einem Kellerfenster, durch das kein Licht fällt, vermutlich, weil es noch nie geputzt wurde, angefüllt mit schimmelnden Kartons und schlecht verpackten Beweisstücken. Tote Büropflanzen. Staub. Benutztes Geschirr. Übervolle Papierkörbe. Wer hier arbeitet, lässt alle Hoffnung fahren. An der hinteren Wand ein Lift als der einzige Weg hinaus in ein besseres Leben. Selbst steckenzubleiben auf dem Weg hinauf ins Draußen wäre eine Besserung der Zustände.
Das Aufzugsignal. Die Fahrstuhltüren öffnen sich. Sandro Volt und Lance Man, letzterer offensichtlich verkatert. In den Händen Plastikbecher mit schlechtem Automatenkaffee. Sie betreten ihren Arbeitsplatz - die Abteilung für unerklärliche Fälle des Versicherungswesens. Sie sind mitten im Gespräch.) 

Sandro Volt: Ich weiß nicht, Lance. Letztendlich ist genau das unser Job, nämlich der Firma Geld zu sparen und die Schuld auf den Versicherungsnehmer abzuwälzen. 

Lance Man: Unser Job ist es, Menschen zu helfen, denen Dinge widerfahren sind, die sich mit unserem Quäntchen Schulweisheit nicht eklären lassen. Die sind traumatisiert! Wir versorgen die Leute nicht nur mit Ersatz ihrer Güter im Falle des Verlustes, Sandro! Wir trösten! Weil wir glauben! Bedingungslos! Und dabei ist es völlig egal, wie abstrus sich die Fallgeschichte zugetragen haben. Glaube, Sandro! Das ist unser Job. 

S: (der vor einem halbblinden Spiegel in der winzigen zugemüllten Teeküche innehält.) Würdest du sagen, meine Wimpern sehen aus wie immer? 

L: Und was Gatteurt angeht - natürlich hasst er uns! Gatteurt hasst uns! Wir stehen für all das, was in seinem eingeschränkten kleinen Weltbild keinen Platz findet. Gatteurts Definition von Extraordinärem beschränkt sich auf den Wahnsinns-Bolognese-Dienstag in der Betriebskantine. 

S: Ich finde, du übertreibst, Lance. 

L: Ich übertreibe? Sandro, wir sind die Abteilung für unerklärliche Fälle des Versicherungswesens! Und worauf liegt deiner Meinung nach die Betonung? 

S: Versicherung? 

L: Unerklärlich Sandro! Unerklärlich! 

S: Unerklärlich. Natürlich.

(Das Telefon läutet.)

L: Und wie lange ist es her? Wie weit zurück liegt unser letzter wirklich unerklärlicher Fall. Hm? 

S: - 

L: Überlege. 

S: Ich überlege ja. Da war dieser Spuk. 

L: Welcher Spuk? 

S: In diesem Landgasthof. Die Kundschaft blieb aus. Diverse Klagen von Hotelgästen, die im Schlaf gewürgt wurden und geohrfeigt, Flaschen und Aschenbecher an den Kopf bekamen. Zwei Seniorinnen wurden mit eingeschlagenen Köpfen in der Toilette gefunden. Der Rechtsschutz hat sich an uns gewandt, weil der Hotelier auf Geisteraktivitäten hinwies.

(Das Telefon verstummt.)  

L: Das waren keine Geister Sandro! Sondern miserabler Service eines pathologisch schlecht gelaunten Hotelinhabers, der in den Gästen den Grund für seine Scheidung sah. 

S: Oder... da war die Sache auf dem Rummelplatz! 

L: Der Rummelplatz. Ehrlich? 

S: Da sind vier Kinder aus einer Geisterbahn verschwunden. Das war ziemlich unerklärlich, wenn du mich fragst! 

L: Sandro! Wir haben die Leichen gefunden! Drei waren mit Seilen und Pappmachèfratzen an Stelle der Köpfe an der Decke befestigt! Ich meine, wer kommt auf die Schnapsidee eine echte Guillotine in seinem Fahrgeschäft zu installieren? Alles in allem ziemlich erklärlich, wenn du mich fragst.

S: Ja. Stimmt schon. 

L: Wenn nicht bald etwas geschieht, dass uns vor denen da oben rechtfertigt, macht Gatteurt uns den Laden dicht und die einzigen Gutachten, die du erstellst, betreffen den Hygienegrad anonymer Genitalien, die deinen knabenhaften Körper auf der Herrentoilette des Hauptbahnhofs infiltrieren werden! 

S: Kein Grund, gemein zu werden. 

L: Wir haben mit Menschen zu tun, die sich Gucklöcher in verdammte Bettlaken schneiden! 

S: Lance. 

(Das Telefon läutet.)

L: Wir machen hier nichts, was die da oben nicht auch allein erledigen könnten. Wir sind entbehrlich. Und Gatteurt hasst uns, Sandro! Natürlich hasst er uns! Ich hasse uns! Das hier! Diese Gespräch! Wir leben eine schlecht geschriebene Drei-Fragezeichen-Episode, in der nie etwas passiert, siehst du das nicht? Und hast du dir die Typen hinter den Stimmen mal angesehen, Sandro? 

S: (reibt sich die Augen.) 

L: Diese fetten, aufgedunsenen, schütterhaarigen, wurstlippigen Schwachmaten mit ihren pubertären Fistelstimmchen, deren speckige Haut durch Jahre im Tonstudio ganz fahl und pickelig geworden ist. Ausgebildete Schauspieler, Kinderstars, die entstellt durch evolutionäre Rückentwicklung niemals wieder eine Bühne betreten dürften, da sie im grellen Scheinwerferlicht sofort zu Asche zerfallen würden. Sieh die Parallelen, Sandro. Sperr die Augen auf! 

S: (dessen Augen irritierend stark tränen.) Lance, du steigerst dich da in etwas hinein. 

L: Wir ergehen uns in Atavismen Sandro! Ich fühle mich nicht herausgefordert. (Das Telefon verstummt.) Das hier sollte spannend sein. Erschreckend. Gefährlich und mysteriös. Oder unglaublich! 

S: Unerklärlich. 

L: Du sagst es! Unerklärlich! Stattdessen- 

S: -und wir ergehen uns nicht in Atavismen, Lance. 

L: ICH HABE MIR GESTERN AUS LANGEWEILE EIN NEST GEBAUT! (er öffnet die Türen eines Küchenschranks. Ein Kokon aus Speichel, Papier und Aktennotizen. Fatalistisch.) Und ich habe das erste Mal seit Monaten wieder ausgezeichnet geschlafen. 

S: Gut. Gut. Das ist gut. Oder? Ist es nicht gut? (Volt betrachtet Lance aus großen verheulten Augen.) 

L: Gatteurt hasst uns. Alle hassen uns. Und so sie uns nicht hassen, lachen sie uns aus. Hörst du sie lachen, Sandro? Während wir im Sitzen schlafend zu verhindern versuchen, dass unsere Elefantasis uns die Luftröhre zerquetscht. Wir sind die Insel des Doktor Moreau, die Leprakolonie dieses Unternehmens. In den Augen Gatteurts sind wir das Krebsgeschwür, das tief in den Eingeweiden seiner Firma wuchert. Und herausschneiden wird er uns. Die Frage ist nur, wann und wie. Diese Abteilung braucht einen echten Beweis. Eine Daseinsberechtigung, verstehst du das nicht, Sandro? 

S: Diese Frau hat mir die Augäpfel geleckt. 

L: (der gar nicht zugehört hat.) Siehst du, ich wusste es. Du verstehst mich. Du bist meine Cher, du bist mein Anthony Hopk- Was? 

S: Diese Frau. Ich war dort um ein Gutachten zu erstellen. Sie war im Obergeschoß. Ich hab sie routinemäßig befragt und plötzlich- Ganz ehrlich, Lance? Da war nichts. Du hattest Recht. Ich hätt' gar nicht erst hinfahren sollen. Der Schaden selbstverschuldet und die ganze Geschichte nur Lüge um die Versicherung zu prellen. Schreuder tut mir leid, Lance. Er scheint verwirrt. Offensichtlich hat er wirklich keine Erklärung für die Schäden in seiner Wohnung. Einzig weitere Person im Haus ist Maria Weisz, Studentin, 27 Jahre. Wohnt da zur Untermiete. Aber von Spuk keine Spur. Die haben ihr eigenes Interieur geschrottet, so seh ich das, also zahlen sie auch dafür. Mein Verdacht - das Mädchen war's. Offensichtlich kam sie eines Tages nichtsahnend nach Hause und ertappte ihren geistig wie sexuell herausgeforderten Vermieter dabei, wie er Polaroidaufnahmen ihrer Unterwäsche schoss. Strümpfe. BHs. Ihre Höschen. Fein säuberlich auf der Matratze arrangiert und überraschend ästhetisch ausgeleuchtet. Sie hat mir die Bilder gezeigt. Also zahlt sie's ihm heim und zertrümmert nach und nach die Einrichtung. Sie gibt's nicht zu. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie's ist. Hübsches Ding. Sehr hübsch. Und wie wir so reden und ich mich über all die Poster mit Pentagrammen und Ziegen in ihrem Zimmer wundere, beugt sie sich vor, und ich denke noch, jetzt küsst sie mich, und dann hat sie mir die Augäpfel geleckt.

L: Ich- Okay? Das ist sehr verwunderlich. Warum würde sie das tun? 

S: (beginnt zu weinen.) 

L: Und warum würdest du dir das gefallen lassen?

S: (schluchzt.) Es war ihre Unterwäsche! Lance! In diesem Zimmer! Höschen! Schlüpfer! In allen Farben des Regenbogens! Es war wunderschön! Sie war wunderschön. Und eins führte zum andern. Lance. Ich weiß, wie die Regeln im Kundengespräch sind, ich weiß das doch! Ich habe das verinnerlicht! Aber die hier war verdammt forsch!

L: Gut. Na gut, da ist nichts Unnatürliches. Wenn ein Mann und eine Frau eine gewisse Anziehung füreinander empfinden, und eines zum anderen führt, dann-

S: Nein! Wir haben nicht miteinander geschlafen! Ich meine, wir wollten. Oder ich dachte, ganz kurz nur- ich meine, wir hatten vor, miteinander zu schlafen. Und dann kletterte sie auf meinen Schoß, fasste meinen Kopf mit beiden Händen, hielt mir mit Daumen und Zeigefinger die Lider geöffnet und leckte mir die Augen. Oh Gott! Ich weiß nicht- Ich- Hätt ich nein sagen sollen? Ich meine, jetzt hör ich's auch! Ich- Oh Shit! Ihre Zunge berührte meine Augäpfel, Lance! 

L: Hm. Vielleicht- vielleicht hat sie deinen Mund verfehlt und deine Augen aus Versehen- 

S: Drei Minuten lang!? 

L: Okay ja, das klingt ziemlich vorsätzlich, ja. Jupp. Volle Absicht also. Okay. Hm. (Pause.) Wars denn gut? 

S: Es war widerlich! Ich lag da und sie war schön, Lance, sie war so schön! Und ich wollte nicht unhöflich erscheinen, also hielt ich still. Und es hat gebrannt, Lance, es hat so schrecklich gebrannt. Sie und ihr Kaugummi. Sie kaute Kaugummi! Das Menthol- (ihm versagt die Stimme. Er schluchzt.) 

L: (der perfekte Moment für einen Close-Up. Heroisch.) Da draußen passieren ziemlich merkwürdige Dinge.

S: Unerklärliche Dinge? 

L: Wer weiß das schon? Spül dir die Augen aus kleiner Mann. 

(Volt beugt sich über die dreckige Spüle und wäscht sich die Augen aus.) 

L: Wir sind Partner Sandro. Du bist vermutlich das, was einem- einem bes- einem Freuih- einem Fr- oder einem Bruihd- einem Brudih- Ach Shit! Ich bin nicht gut in diesen Dingen. (Mit fester Stimme.) Sandro! Du bist wie mein Arm! Ich mag dich! Aber hinge mein Leben davon ab, ich würde keine Sekunde zögern, dich abzuschlagen! 

S: (irritiert.) Das- das ist nett. Danke. 

L: Wir stehen allein. Vor uns die Finsternis und hinter uns Gatteurt, der uns jederzeit in den Rücken fallen wird. Wart's nur ab. Er hasst uns. Abgrundtief. 

S: Ich glaube nicht, dass Gatteurt diese Abteilung hasst. Hass ist ein so großes Wort, Lance. 

(Das Aufzugsignal. Die Schiebetüren öffnen sich. Hubert Rochus Fritz Gatteurt, seit dem überraschenden Tod seines Vaters, des Gründers der Gelee-Royal-Versicherungen, während eines Tauchgangs vor Barbaidos, mächtiger und grausamer Alleinherrscher über den Konzern.) 

Gatteurt: Ich hasse diese Abteilung. (Er betritt das Büro.) Ah! Man! Warum geht in Ihrer Abteilung eigentlich nie jemand ans Telefon? Weswegen ich Sie sprechen muss- (zu Sandro.) Warum blinzeln Sie mich an, Mann? Flirten Sie mit mir? 

S: Was? 

G: Man. Der Aufsichtsrat sitzt mir im Nacken. Was ich hasse. (er blickt sich um.) Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sonderlich sicher, was Sie hier unten treiben, aber ich habe meine Vermutungen. Und ich habe auch eine Meinung meine Vermutungen betreffend. Und Sie können mir heute helfen, Man. Möchten Sie das? Würden Sie mir gerne helfen? 

L: Ich- weiß nicht? 

G: Sie wissen, mein Vater hielt große Stücke auf Sie. Auf diese Abteilung. Und Sie wissen, dass ich diese Ansicht nicht unbedingt teile. Ehrlich gesagt, die bloße Existenz dieser Büroräume pervertiert in meinen Augen alles, was diese Firma unter meiner Führung groß und effizient machen könnte. Und ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass selbst mein Vater, Gott hab ihn selig, mit mir übereinstimmen würde, könnte er sehen, welcher Art "Arbeit" Sie sich hier unten verschrieben haben. Hokuspokus. Kirmestricks. In meinen Augen. Ganz ehrlich bedaure ich die armen Seelen, die verwirrt genug sind, sich in ihrer Not an jemanden wie Sie und Ihre Mitarbeiter zu wenden. Und deren Hilferufen Sie mit etwas begegnen, das in unserer Branche von jeher nichts verloren hat: Verständnis. Aber allem Hader zum Trotz: heute haben wir von der Versicherungsbranche staatliche Auflagen zu erfüllen. Und also müssen wir zusammenstehen, drücke ich mich klar aus?

(Lance zuckt mit den Schultern.)

G: Nun, die Regierung zwingt uns ab sofort in diesem Betrieb auch- (er holt tief Luft.) Und ich hätte nicht gedacht, dass ich das jemals sagen müsste, Man! Aber man verlangt von uns, ab sofort auch- (er schluckt.) Auch Frauen zu beschäftigen. Und wir sprechen hier nicht von Sekretärinnen in viel zu knappen Kleidungsstücken. Wir reden hier von der Geburtsstunde der Versicherungskauf- (die letzte Silbe geht ihm außerordentlich schwer über die Lippen.) -frau. Hier. Ich hab's gesagt. (bewegt.) Man. Wir leben in einem dunklendunklen Zeitalter. Die hässliche Fratze des Fortschritts, hier zeigt sie sich. Und sie trägt Lippenstift und Wimperntusche. Ich fürchte, dies wird das Gesicht der Branche für immer verändern. 

L: Eine Frau? Hier? 

G: Wo sonst? Oben etwa? Wo ich sie ständig sehen muss? Natürlich hier bei Ihnen! Immerhin könnte diese Frau der einzige Grund sein, warum ich Ihre verlotterte Abteilung in absehbarer Zeit nicht auflösen werde. Und nicht auflösen kann. Was ich hasse. Drücke ich mich klar aus? 

S: Eine Frau. 

L: Nein. Hubert, neinnein. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Frauen. Ich liebe Frauen. Nun, ich liebte eine. Frau. Aber wir arbeiten in der Versicherungsbranche! Wir reden von harter körperlicher Arbeit. Wir frequentieren unser Mitarbeiter aus Stahlwerken, Minenschächten. Gefängnissen gar. Dem Leistungssport. Nowotny vom Hausrat war bei der Raumfahrt. Dies hier ist kein Platz für eine Frau! Ich meine- Was ist mir der Doktrin-? 

G: Ich fürchte, die Doktrin zählt nicht länger. Aber ich teile Ihren Schmerz. Ich mehr als jeder andere, das müssen Sie mir glauben. Ein Rat. Lernen Sie sie kennen. Und urteilen Sie dann. Sie ist bereits auf dem Weg. Hier. Für Sie. (Er reicht Man eine Dokumentenmappe, die dieser unbesehen an Sandro weitergibt.) 

S: (öffnet die Unterlagen, liest, augenblicklich wie verzaubert.) Mitzi Schenkel.

(die Zeit verlangsamt sich. Musik explodiert. Das Licht verändert sich. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Gatteurt und Man verlagern ihr Streitgespräch in den Hintergrund, ins Halbdunkel, stumm und bis ins Unendliche gedehnt. Das Aufzugsignal. Die Türen gleiten auseinander. Zeitlupe. Mitzi Schenkel schwebt auf die Bühne. Haare. Schultern. Glosslippen. Creolen. Und Flitter. Soviel Flitter. Mitzi - Kind ihrer Zeit. Für diesen einen fast ewigen Moment, nahezu angehalten, gibt es nur zwei Menschen auf der Bühne: Sandro und sie. Und Demis Roussos vielleicht. Von wegen Musik. So als Tipp. Der ist gar nicht so verkehrt. Ehrlich. Der aber plötzlich verstummt. Wodurch Sandro Volt zurück ins Jetzt geschleudert ohnmächtig zusammenbricht. Gatteurt und Man unterbrechen ihren Streit, blicken auf den leblosen Körper am Boden. Stille.) 

Mitzi: (auf Sandro zeigend.) Dieser Mann hat hier schrecklich entzündete Eiballen! 

(Black.) 

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