Blutbuch

ein Bürger*innenprojekt nach dem Roman von Kim de l’Horizon

sparte4, Saarländisches Staatstheater | 2025

Regie, Fassung, Bühne | Ko-Regie: Luca Pauer | Kostüm: Lisa Weinbrecht | Video: Grigory Shklyar


„Vorhang auf: Nagelstudio. Dass die Trennung zwischen Bühne und Publikum nicht ganz so ernst genommen wird, ist man von der Sparte4 nicht anders gewohnt. Dass den Gästen von den Darstellenden während der ersten fünf Minuten Spielzeit erst einmal emsig die Nägel […] lackiert werden […] ist indes selbst für die progressivste der vier Sparten des Saarländischen Staatstheaters ein Novum.

Freilich ist das kostenlose Verschönerungsangebot mehr als Klamauk, mehr als bloßes Durchbrechen der vierten Wand um dessen selbst willen. Es dient als Sprungbrett ins Thema. Und bereitet den Bühnenauftritt von Schauspieler*in Nils Svenja Thomas vor. Mit schriller Stimme weist Thomas die Mitspielenden, die allesamt Teil des Bürger*innen-Ensembles sind, mit dem das Stück entwickelt wurde, zurecht: ‚Wir tragen keinen Nagellack mehr auf.‘ Und warum? ‚Weil heterosexuelle Männer angefangen haben, Nagellack für sich zu beanspruchen.‘ Als Ausdruck einer Solidarität mit der queeren Community. Als symbolische Spielerei, die nach Belieben wieder abgenommen werden kann. ‚Wie muss das sein, in eurer Welt, in der man keine Angst haben muss, Nagellack zu tragen?‘, rotzt Thomas dem Publikum hämisch entgegen. Wie es hingegen ist, die Insignien der eigenen, nicht-binären und somit in der Breite der Gesellschaft noch immer nicht akzeptierten Geschlechtsidentität nicht ablegen zu können, ist Thema des rund eineinhalbstündigen Bühnenprogramms.

Als Ausgangspunkt dafür haben die Sparten-Chefs und Regisseure Luca Pauer und Thorsten Köhler das ‚Blutbuch‘ herangezogen, [… in dem Kim] de l’Horizon die eigenen Erfahrungen als non-binäre Person, als Mensch, der also weder Mann noch Frau ist, zu einem sprachlich dichten Roman [verwertet], […] Kategorien wie Geschlecht und Identität in nie dagewesener Weise [dekonstruiert]. An deutschen Theatern wird das ‚Blutbuch‘ seither hoch und runter gespielt. Meist in braver Texttreue. In Saarbrücken hat man sich indes dagegen entschieden, die Handlung des ‚Blutbuchs‘ und somit de l’Horizons ganz persönliche Lebensgeschichte nachzuerzählen. Stattdessen stehen die Lebenserfahrungen der Spielenden selbst, das sind neben der professionellen Schauspieler*in Nils Svenja Thomas die Laien Fred Kakuschke, Alex Mayer, Robert Schöpfer und Skyler Wandrowitsch im Mittelpunkt. […]

Die Lebenserfahrungen der Darstellenden finden dabei auf unterschiedliche Weise Eingang in das Bühnenstück. Auf die Rückwand der Bühne projizierte Videos (von Grigory Shklyar) zeigen Regisseurin Luca Pauer im Gespräch mit den beteiligten Bürger*innen. Sie sprechen darüber, wie es ist, kritisch beäugt zu werden. Nicht die passende Toilette oder Dusche benutzen zu können. Mit den falschen Pronomen angesprochen zu werden, immer wieder hinterfragt zu werden. […] Sie erlauben intime Einblicke, die jedem und jeder helfen können, andere Lebensrealitäten besser zu verstehen. So sagt Alex Mayer im Video: ‚Eigentlich geht auch das hier niemanden etwas an, aber wenn es niemand teilt, versteht es auch niemand.‘

Nils Svenja Thomas hingegen, ganz Profi, hält nicht nur die Truppe zusammen, sondern referiert auch wortreich und bissig vom ‚Schauermärchen von bloß zwei Geschlechtern‘, vom eigenen Körper, den es in Kindertagen ’noch gar nicht gab‘ (zumindest nicht sprachlich) und vom ‚Binaritäts-Faschismus‘. […] Thomas‘ Monologe, scharf abgefeuert wie aus einer Pistole, sind dabei derart sprachlich und theoretisch dicht, dass man schon einmal ins Taumeln zu geraten droht. Nur um dann mit ‚ich weiß, sie fragen sich, warum da wieder jemand popliterarisch rumschwurbuliert‘ versöhnt zu werden.

[…] Überhaupt: Das Oszillieren zwischen intimen Einblicken, Dringlichkeit, Witz und Anklage […] macht den besonderen Reiz der Inszenierung aus. Aufklären: ja, aber bitte mit ordentlich Feuer und Witz.

Und zum Ende dieses Abends, der einem mehrfach Gänsehaut über den Rücken jagt, wartet da auch noch ein versöhnliches Moment. Denn das, was da mal als intimer Einblick, mal als bissige Anklage auf der Bühne zu sehen war, ’stricken wir, um bei euch zu sein, ihr Lumpen!’“

– Isabell Schirra, Saarbrücker Zeitung

„Das Regieduo Pauer/Köhler inszeniert […] einen Mix aus biografischem Theater und Film. Der changiert zwischen den Polen ernsthaft und lustig und wirkt dabei stets authentisch. […] Die gewährten Innenansichten vermögen es, ein Mehr an Toleranz und Akzeptanz zu schaffen.“

– Oliver Sandmeyer, saartext

„Normalität. Berechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Das wünschen sich, das fordern die Protagonist*innen des Theaterabends ein. Und das ist gut so! Zum Anschauen und Nachdenken dringend empfohlen!“

– Wir im Saarland – Kultur, Saarländische Rundfunk

„Ich möchte Ihnen noch ein kurzes Feedback geben zu Ihrem Stück. Da ich weder das Buch kannte, noch überhaupt etwas über das Stück wusste […], hatte ich die Illusion, dass alle Darsteller*innen authentisch von sich persönlich erzählen würden! […] Erst in der Nachbesprechung wurde mir klar, dass da der Inhalt des Buches rezitiert wurde. [… S]tarke Leistung! Laien und Profi haben sich toll ergänzt! Außerdem finde ich das Fingernägel-Anmalen des Publikums gut. Bei mir der kleine Finger. [… A]m nächsten Morgen, im Alltag, habe ich gedacht: Was denkt meine Umgebung von mir? Beruflich? Familie? Spricht mich jemand darauf an? […] Danke für die gelungene Aktion! Die Farbe ist noch dran! […]“

– Publikumsreaktion aus einer Mail an die Theaterleitung